Gertrud und die Geschichte ihres Lebens

g_reichertGeschrieben von Volker Ufertinger, Münchner Merkur 13. März 2016

Gertrud Reichart ist 89 und genießt ihr Leben. In einem kleinen Buch hat sie ihre Geschichte aufgeschrieben – für ihre Familie. Damit die nicht vergisst, dass Flucht und Vertreibung sie in das Paradies am Starnberger See gebracht haben.

Es ist ein kleines, blaues Buch, in das Gertrud Reichart, 89, aus Münsing, Kreis Bad Tölz-Wolfratshausen, ihr Leben niedergeschrieben hat. Auf 56 Seiten hat sie mit ihrer schönen, klaren Handschrift für ihren Sohn Michael, ihre Schwiegertochter Silvia sowie die Enkel Monika und Michi notiert, was sie alles erlebt hat – oder besser, was sie alles erlitten hat. Ihre Geschichte handelt von einer kargen Kindheit und Jugend in Niederschlesien, einer dramatischen Flucht mit Tod und Elend – und dem Glück, das sie am Starnberger See gefunden hat. Dazu ein paar eingeklebte Fotos, auf den ersten Seiten schwarz-weiß, später farbig. „Das Buch ist für unsere Familie so etwas wie ein Heiligtum“, sagt ihr Sohn Michael, 51.

Wer Gertrud Reichart heute im Münsinger Ortsteil Seeheim besucht, trifft auf eine hellwache und extrem rüstige Frau. Vom Fenster ihrer Wohnung aus schaut sie auf den Starnberger See, der sie und ihre Familie ein halbes Leben lang ernährt hat. Ihr Mann Hugo, ein Fischer, ist vor vielen Jahren gestorben. Jetzt gilt ihre ganze Fürsorge der Familie und den Untermietern, die irgendwann statt der Feriengäste kamen. So repariert sie manchmal in mühsamer Kleinarbeit die kaputten Netze von Michael, der immer noch als Fischer auf den See fährt. Oder sie backt für die Untermieter einen Bienenstich und legt ihn auf deren Auto. Dann finden sie den Kuchen, bevor sie in die Arbeit fahren. „Ich bin ein glücklicher Mensch“, sagt sie. Auch wenn ihr Leben nicht immer einfach war.

Gertrud Reichart wird im Jahr 1926 in die niederschlesische Bauernfamilie Hendrick hineingeboren. Sie wächst im Regierungsbezirk Breslau auf, genauer in Trachenberg (heute Zmigród). Schon die Umstände ihrer Geburt erzählen viel über die damalige Zeit. Die Eltern Agnes und Paul fahren morgens mit dem Spazierwagen 18 Kilometer zur Tante, um dort Ferkel zu holen. Nachmittags geht’s wieder zurück. Durch die Erschütterungen tut sich etwas bei der Hochschwangeren. „Durch die Schukelei wollte ich auf die Welt“, steht in Gertrud Reicharts Buch. Daheim angekommen, fährt die Mutter mit dem Fahrrad zur Hebamme, während der Vater die Kühe und Schweine füttert. Das Leben ist geprägt von härtester Arbeit. „Sehr viel Liebe haben wir Kinder nicht bekommen“, erinnert sich Gertrud Reichart. Die Kinder: Das sind eine Stiefschwester und drei Stiefbrüder aus der ersten Ehe des Vaters sowie ihr leiblicher Bruder Herbert.

Die Hendricks bauen alles an, was der Boden hergibt, Zuckerrüben, Futterrüben, Mohn sowie alle Sorten von Getreide. „Die Feldarbeit ging bei uns das ganze Jahr nicht aus“, schreibt sie. „Im Herbst war die Zuckerrübenernte so kalt und schmutzig. Im Winter war Getreidedreschen angesagt mit Kälte und Staub.“ Das Leben ist kein Glück. Es ist eine Plage.

Nicht viel besser ist es in der Schule. Körperliche Züchtigung ist an der Tagesordnung. Gertrud Reichart beschreibt die Zustände sachlich, es war die Normalität damals – wenn auch eine, die man sich heute nicht mehr vorstellen kann: „Die Lehrer waren so streng. Gleich gab es mit dem Rohrstock auf die Hand, die Buben auf den Hintern.“ Unterstützung von den Eltern gibt es keine. Wie auch. Die sind damit beschäftigt, die Familie zu ernähren.
Doch auch schöne Erinnerungen haben ihren Platz in dem kleinen blauen Buch. An die Schlittenfahrten in den schneereichen Wintern, wo angewärmte Ziegelsteine die Füße der Kinder wärmen. Oder an eine Fahrt nach Berlin, wo sie sich vier Wochen lang die Hauptstadt anschauen darf. Im Sommer 1939. Da liegt der Schatten des Zweiten Weltkriegs schon über Europa. Der Überfall von Hitler-Deutschland auf Polen bringt die Welt ins Wanken, und das Leben von Gertrud Reichart auch. „Es ist nur gut, dass man nicht weiß, was alles kommt“, schreibt sie im Rückblick. Es kommen damals Tod, Vertreibung und Verzweiflung. Die Brüder werden eingezogen. Einige ziehen sich Verletzungen zu, etwa eine gespaltene Kniescheibe, und Gertrud besucht sie im Lazarett.

Doch dann kommt der 14. November 1944, der Geburtstag des Vaters. An diesem Tag erfährt die Familie, dass Gertruds leiblicher Bruder Herbert an der Ostfront gefallen ist. Bauchschuss, Tod – im Alter von 19 Jahren. „Es war schon dunkel, als mein Vater vom Feld kam. Meine Mutter und ich gingen auf den Hof raus und brachten ihm die traurige Nachricht. Alle drei haben wir geweint. Weihnachten war dann ganz trostlos.“ Das Elend jedoch fängt gerade erst an.

Am 21. Januar muss die Familie vor den anrückenden Russen fliehen. Die Turmuhr schlägt elf, daran erinnert sich Gertrud Reichert genau. Man steht aufbruchbereit neben dem gepackten Wagen, als es sich der Vater anders überlegt. „Ich kann doch nicht fortgehen und alles im Stich lassen, was ich mir aufgebaut habe“, sagt er plötzlich. Auch die Mutter bleibt. Gertrud hingegen, zu diesem Zeitpunkt 18 Jahre alt, hält an ihrem Entschluss fest, nimmt ihre Sachen vom Wagen und geht. Am Hoftor nimmt ihr Vater von ihr Abschied, mit den Worten: „Mädel, ob wir uns nochmal wiedersehen werden.“ Es sind die letzten Worte, die sie aus dem Mund ihres Vaters gehört hat.
Gertrud Reichart steigt in einen Zug und flieht. Es ist höchste Zeit, die Kanonen der Russen donnern schon in der Ferne. Ihr Weg führt sie erst in Richtung Prag, dann Richtung Dresden, gemeinsam mit Tausenden anderen, die alles verloren haben. An einigen Orten bleibt sie Tage, an anderen Wochen. Meist schläft sie im Freien, ihre Habe geht verloren, die Armbanduhr wird ihr nachts vom Handgelenk gerissen. Nur knapp entgeht sie einer Vergewaltigung: Ein Russe, der deutsch spricht, verschont sie. Ein Riesenglück. Als man ihr erzählt, dass die Flüchtlinge verbrannt werden, ist sie kurz davor, sich in den Fluss zu stürzen. „Zum Glück habe ich es nicht getan“, schreibt sie. Das Leben hatte noch etwas mit ihr vor.

Mitte Mai 1945, der Krieg ist vorüber. Gertrud will wieder nach Hause, nach Trachenberg. Auf dem Weiler Klein Pantkau wird die junge Frau von Russen gestoppt, sie bleibt zwei Jahre dort und arbeitet in der Landwirtschaft. Doch zwischendurch darf sie mit einer Sondergenehmigung auf den ehemaligen väterlichen Hof. Dort erfährt sie die schreckliche Wahrheit: Am Tag nach ihrer Flucht waren russische Soldaten eingerückt. Sie vergewaltigten die Mutter, die danach für ihre Peiniger auch noch kochen musste. Weil die Eltern das nicht ertrugen, versuchten sie, mit dem Fahrrad zu fliehen. Doch sie kamen nur wenige Meter: Hinter der Scheune wurden sie erschossen und danach verscharrt.

Gertrud steht unter Schock. Nun beginnen die Irrfahrten von Neuem. Doch irgendwann, nach vielen Monaten des Getrieben-Seins, landet die Heimatlose in Eibau bei Bautzen. Hier nimmt ihr Schicksal eine Wende zum Guten. Die Familie Fibinger nimmt sich ihrer an und erweist sich als sehr freundlich. „Als ich am Abend in ein weißbezogenes Bett ging, habe ich vor Freude geweint“, schreibt sie. Der Gedanke, mit dem sie in der ersten Nacht einschläft, ist: „Es gibt doch einen Gott.“ Diesen Glauben hatte sie zuvor verloren.

Nach Bayern kommt die junge Frau zum ersten Mal im Jahr 1955. Ihre Schwester Lisbeth hat schon in den 1930er- Jahren nach Münsing geheiratet. Gertrud besucht sie eines Tages: Erst fährt sie mit dem Zug zum Starnberger See, dann mit dem Schiff nach Ammerland. Dort wohnt die Stiefschwester im Gärtnerhaus des Pocci-Schlosses. „Die Freude war beiderseits groß.“ Die Frauen wandern gemeinsam auf den Wendelstein – und da ist es um Gertrud Reichart geschehen. Sie will unbedingt in diesem gelobten Land heimisch werden. Ein Paar Schuhe lässt sie bei ihrem ersten Besuch schon da. Und nach einem halben Jahr kommt sie wieder an den Starnberger See. Diesmal, um zu bleiben.

Im Haus ihrer Schwester trifft sie auch zum ersten Mal ihren späteren Mann Hugo Reichart. Seinen Dialekt versteht sie anfangs nicht. „Er unterhielt sich mit einem Freund, aber nix verstehen Bayerisch“, notiert sie in ihren Erinnerungen. „Ich bin mir fast wie eine Ausländerin vorgekommen.“ Doch die beiden kommen sich irgendwann näher, unternehmen Ausflüge mit dem Moped, Wanderungen auf den Herzogstand und Kissenschlachten auf Hütten. Am 2. Februar 1955 heiratet das junge, schöne, hoffnungsfrohe Paar.

Heimisch werden sie im Ortsteil Seeheim. Die Familie lebt vom Fischfang und später ein wenig vom Tourismus, indem sie Zimmer vermietet. Es herrscht Friede, ein gewisser Wohlstand kehrt ein, mit neuen Möbeln, Wasserleitung und Nähmaschine. Im Juni 1964 kommt Sohn Michael auf die Welt, „der Ersehnte“, wie Gertrud Reichart ihn in ihren Aufzeichnungen nennt. Das Bauernkind aus dem bitterarmen Schlesien hat seinen Platz im Leben gefunden.
Das meint sie, wenn sie sagt, sie ist glücklich. Und das glaubt man der 89-Jährigen sofort. Nur eines macht ihr Sorgen, wenn sie den Fernseher einschaltet und die Nachrichten anschaut. Das ist der Unfriede auf der Welt. „Der Krieg ist etwas Schreckliches, warum begreifen die Menschen das nicht?“, sagt sie und fasst sich an den Kopf. Dann, nach einer Pause, fügt sie hinzu: „Der liebe Gott wird alles gut machen. Er hat auch bei mir alles gut gemacht.“
Gertrud und die Geschichte ihres Lebens