Der Ambacher Multimediakünstler Felix Kruis entwickelt mit seinem Kollegen Julian Kämper „Sounddramaturgien“ – eine neue Kunstform, die ungeahnte Klanglandschaften eröffnet
Interview: Stephanie Schwaderer, Wolfratshauser SZ vom 12.01.2023
Münsing: Der Ambacher Multimediakünstler Felix Kruis, Jahrgang 1984, hat Kunstwissenschaft studiert und war Meisterschüler von Stephan Huber an der Münchner Akademie der Bildenden Künste. Seine Projekte bewegen sich zwischen Theater, Performance, Film und Multimediakunst. Seit einigen Jahren befasst er sich intensiv mit dem Thema Klang und Raum.
SZ: Herr Kruis, kennen Sie Menschen, die nie einen Kopfhörer aufsetzen?
Felix Kruis: Nein. Der Kopfhörer ist einer der neuen großen Rezeptionsstandards in unserer Welt geworden.
Dennoch soll es sie noch geben. Was entgeht ihnen?
Auf diese Frage gibt es gewiss ganz unterschiedliche Antworten. Bezogen auf meine Arbeit würde ich sagen: Ihnen entgehen dreidimensionale Hörlandschaften, wie man sie nie mit einem Lautsprecher erleben könnte.
Sind diese Hörlandschaften eine neue Erfindung?
Nein, 3D-Audio gibt es bereits seit Jahrzehnten, aber es steckt noch immer in den Kinderschuhen. Zusammen mit Julian Kämper entwickle ich seit 2019 ein Feldrecherche-Projekt mit dem Titel Sounddramaturgien. Das umfasst ein Gebiet mit riesigem Potenzial.
Klang im realen Leben ist immer dreidimensional. Was zeichnet 3D-Audio aus?
Das stimmt, im Alltag höre ich die Geräusche um mich herum in 3D. Sobald ich aber beispielsweise ein Musikstück mit Lautsprecher anhöre, egal ob Mono oder Stereo, wird der Klang – vereinfacht gesagt – zweidimensional. Das kann man sich wie eine Kinoleinwand vorstellen: In der Breite wird ein Klangfeld erzeugt. Dreidimensionaler Klang hingegen titscht überall herum, kommt aus einer Ecke, korreliert mit einem Raum, biegt um die Ecke und verschwindet wieder.
Bildhauerei für die Ohren?
Eher Architektur. Man setzt den Hörer nicht mehr vor die Leinwand, sondern erschafft einen geplanten künstlerisch-ästhetischen Raum um ihn herum.
Auf Youtube kann man Ihren Kollegen Julian Kämper bei einem Kopfhörerkonzert mit den Münchner Philharmonikern erleben. Er bewegt sich auf der Bühne, hat zwei kleine Mikrofone in den Ohren und lässt die Gäste das Konzert auf diese Weise mit seinen Ohren hören. Warum?
Der ganz große Unterschied zu einem normalen Konzerterlebnis besteht zunächst einmal darin, dass sich mit dem Kopfhörer der Sweet Spot der Musik definieren lässt. Also der Punkt, der ein optimales Klangerlebnis bietet. Bei einem analogen Konzert in einem Raum lässt sich nur ungefähr abschätzen, wie die Musik bei den Leuten ankommt. Die Musiker spielen irgendwie in Richtung Publikum. Sie wissen aus Erfahrung: Wenn ich so oder so mit meinem Kollegen zusammenspiele, wird das wahrscheinlich so und so bei den Leuten ankommen. In der Regel funktioniert das einigermaßen. Mit dem Kopfhörer ändert sich alles radikal. Mein Kollege hat dieses spezielle Mikrofon in den Ohren, das es allen anderen, die im Raum Kopfhörer tragen, ermöglicht, mit seinen Ohren zu hören. Und die Musiker spielen nun explizit für seine Ohren. Das verändert radikal das ganze Spiel und die Interpretation eines Stückes. Auch bestehende Stücke bekommen eine ganz neue Fassung. Das ist noch radikaler als bei unterschiedlichen Dirigenten, die ja auch ihre eigene Handschrift haben.
Das heißt: Der Sounddramaturg mit den kleinen Mikrofonen im Ohr entscheidet, wie ein Stück klingt.
Genau. Im Fall der Münchner Philharmoniker haben sich Julian Kämper und ich zusammen mit den Musikern eine exakte Choreografie ausgedacht. Da war nichts zufällig. Deshalb ist es auch nicht vergleichbar mit begehbaren Konzerten, bei den man sich die Orte aussucht, an denen man den Musikern lauscht.
Wird man künftig mit Kopfhörern ins Konzert gehen?
Nein, ich würde nicht sagen, dass alle Konzerte der Welt auf diese Weise gehört werden sollten. Es ist eine ganz eigene Hörsituation mit ganz eigenen Möglichkeiten und einer ganz eigenen Spannung. Eine eigene neue Kunstform. Wir machen auch Experimente mit Theatern oder Kopfhörer-Filme. Die Technik ist allgemeingültig und kann sehr gut für sich allein neben allen anderen Aufführungsformen stehen.
Sie sagen, den Menschen fehle ein „vordergründiges Bewusstsein für die uns umgebende Klangsphäre“. Liegt in unseren Köpfen etwas brach, das sich aufwecken und schulen lässt?
Tatsächlich können Menschen nicht so gut dreidimensional hören, wie sie denken. Links und rechts kann man sehr gut unterscheiden, aber bei oben und unten oder vorn und hinten wird es schon problematischer, vor allem wenn der Klang etwas weiter weg ist. Bassige Klänge sind zudem schwieriger zu erfassen als helle, schneidende. Wenn wir etwas dreidimensional arrangieren, müssen wir es ähnlich wie beim Theater übertreiben, damit es normal ankommt. Fakt ist: Es gibt keine dreidimensionale Hörkultur. Weder bei Konzerten noch beim Filmeschauen sind wir damit vertraut, auch Dolby Surround ändert daran nichts. Man hat keine Erwartung an ein dreidimensionales Hören und weiß gar nicht: Was ist interessant, worauf muss ich achten? Deshalb bauen wir unsere 3D-Konzerte wie eine kleine Schulung auf. Wir beginnen mit einer minimalistischen Klangimprovisation, und zum Schluss gibt es beispielsweise ein komplexes Stück von John Cage, in das man sich richtig fallenlassen kann. Auch bei den Radiosendungen, die wir für den BR und SWR produzieren, nehmen wir die Hörer bei der Hand und lenken ihre Aufmerksamkeit. Dabei kann man auch Tricks anwenden oder mit ikonischen Klängen arbeiten, also mit Klängen, die mit einer klaren Erwartung verbunden sind.
Funktioniert Sounddramaturgie auch bei Leuten, die schlecht hören oder ein Hörgerät brauchen?
Wenn man älter wird und gewisse Töne nicht mehr wahrnehmen kann, wird auch das 3D-Hören schwieriger. Das ist so. Auch das 3D-Gucken im Kino kann nicht jeder, manchen wird schlecht oder schwindlig davon. Für Hörgeschädigte gibt es die Möglichkeit der Induktionsübertragung. Damit haben wir noch nicht gearbeitet. Aber auch das ist ein spannendes Feld.
Von welcher Klanglandschaft träumen Sie? Was würden Sie gerne in 3D umsetzen?
Da habe ich keinen speziellen Wunsch. Es ist eher umgekehrt: Für mich ist es interessant, sehr genau hinzuhören, wie einzelne Räume klingen, und den ein oder anderen dann für ein spezielles Konzert auszuwählen oder für ein akustisches Theaterstück mit einem Ensemble. Neben der künstlerischen Arbeit habe ich aber auch einen wissenschaftlichen Anspruch: Welche Mechanismen bestimmen eine 3D-Klanglandschaft? Welches Handwerkzeug brauche ich, um eine gewisse Wirkmächtigkeit zu erzielen? All das wurde noch nie erfasst.
Sie stellen Ihre Arbeit demnächst beim Ostuferschutzverband vor. Was möchten Sie ihren Gästen in Holzhausen mitgeben?
Einen Eindruck davon, wie sich die Technik und die Hörgewohnheiten in der Welt geändert haben und welche künstlerischen Möglichkeiten dies eröffnet. Ich sehe mich nicht als Aufklärer. Aber ich würde schon gerne vermitteln, dass man den neuen Techniken durchaus Positives abgewinnen kann. Allein mit einem Smartphone und einem Kopfhörer lassen sich ganz neue künstlerische Dimensionen erschließen.
„Die Zukunft des Musikhörens“, Freitag, 27. Januar, 19.30 Uhr, Altes Schulhaus Holzhausen, Kirchbergstraße (gegenüber der Holzhauser Kirche), 15 Euro. Bis Mitte Februar stellen wir Ihnen Kandidatinnen und Kandidaten für den Tassilo-Kulturpreis 2023 vor. Alle Nominierten finden Sie im Internet unter sz.de/tassilo